Adler und Lemminge

Es gab eine Zeit, da wohnten in einem fernen, abgelegenen Tal Adler und Lemminge friedlich zusammen. Die Adler lebten von der Jagd. Dafür flogen sie weit in die Berge und in anderen Täler. Die Lemminge ernährten sich von den Pflanzen, die im Wald und auf den Wiesen ihres Tals wuchsen. Und obwohl sie so verschieden waren, verband sie doch eine feste Freundschaft. Die Lemminge hatten Kenntnis von den Heilkräften der Pflanzen und wussten, wo sie wuchsen. Sie halfen den Adlern, wenn diese krank waren. Dafür bedankten sich die Adler bei den Lemmingen, indem sie über das Tal wachten und die Lemminge vor drohender Gefahr warnten, damit diese sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.

Das Ende der Traumzeit

So lebten sie damals glücklich miteinander. Aber eines Tages gab es für die Adler nicht mehr genug Nahrung. Obwohl sie viele Male fortflogen zur Jagd, gelang es ihnen nicht, genug Beute zu machen, daß alle satt wurden. Die Lemminge halfen ihnen, so gut es ging, mit Essen aus. Aber die Adler wurden immer schwächer und viele von ihnen konnten schon nicht mehr fliegen, weil sie so entkräftet waren. Ein großer Adlerrat wurde abgehalten, und alle Ältesten überlegten, was zu tun sei. "Fressen wir doch die Lemminge, wenn sonst nichts da ist", sagten einige, die der Hunger aggressiv gemacht hatte. "Das dürfen wir nicht tun, denn sie geben uns von ihrem Essen ab", sagten die Besonnenen unter ihnen. Man wurde sich nicht einig und trennte sich im Streit. Einige Adler versuchten tatsächlich, Lemminge zu jagen. Aber weil sie geschwächt waren, nicht fliegen konnten und sich am Boden sehr unbeholfen bewegten, hatten sie keinen Erfolg.

 

Auch die Ältesten der Lemminge waren besorgt über die Situation. "Wer soll jetzt unser Tal bewachen", fragten sie voller Angst. Ein kluger, alter Adler, der den Lemmingen gewogen war, zeigte ihnen dann, wie sie auf die Berge klettern und von dort aus weit ins Land sehen konnten. Zwei andere junge Adler unterrichteten die Lemminge, damit sie den warnenden Adlerschrei lernten. So übernahmen die Lemminge die Bewachung zum Schutz des Tales vorübergehend selbst.

 

Viele Monde später ging es den Adlern immer noch schlecht. Inzwischen murrten einige Lemminge, warum man die Adler noch pflege und durchfüttere. Denn jetzt, wo Lemminge das Tal selbst bewachten, seien Adler zu nichts mehr nütze und einige von ihnen würden obendrein noch versuchen, Lemminge zu fressen. Immer mehr Lemminge murrten unzufrieden mit. Und so geschah es, daß nach und nach niemand mehr die Adler pflegte und versorgte.

 

Die Generationen kamen und gingen. Im Laufe der Zeit vergaßen die Adler alles, was sie ursprünglich einmal konnten und waren. Mühsam lernten Adlerkinder, wie man Wurzeln und Beeren sammelt und sich am Boden bewegt. Sie versuchten sich anzupassen an die Lebensweise der Lemminge, aber es gelang ihnen kaum. Sie waren plumpe Läufer. Ihre Flügel, die sie hin und wieder ausbreiteten, blieben im Gebüsch und an anderen Hindernissen hängen. Darum gaben sie sich große Mühe, ihre Schwingen immer fest am Körper zu behalten. Und ihre Augen, die für den Blick in die Ferne gemacht waren, hatten Schwierigkeiten, die Beeren zu sehen, die direkt vor ihrem Schnabel waren. Bei den Lemmingen waren sie nicht besonders beliebt, denn, auch wenn die Adler sich bemühten, wurden sie doch keine besonders guten Lemminge.

 

Die Lemminge hatten die Bewachung des Tales nach und nach verbessert. Da sie schlechte Kletterer waren, hatten sie Stufen in die Berge gehauen, Leitern gebaut, Brücken über unwegsame Schluchten geschlagen und Türme errichtet, von denen aus man noch weiter ins Land sehen konnte. Als Wachposten nahmen sie hin und wieder auch tüchtige Adler, weil diese den Warnschrei gut beherrschten, keine Höhenangst hatten und besonders weit gucken konnten. Aber nur wenige Adler schafften es, wie ein Lemming zu sein und von ihnen akzeptiert zu werden.

 

Die Zeiten kamen und gingen, als eines Tages ein großes Erdbeben die Berge erschütterte. Ein Adler, der ein guter Lemming geworden war, hatte gerade seinen Wachposten oben auf einem Turm bezogen, als dieser unter ihm einstürzte. Instinktiv breitete er seine Schwingen aus, um den Sturz abzufangen und

 

- langsam glitt er durch die Lüfte und landete sanft auf dem Boden.

 

Der Adler war entsetzt über das, was ihm soeben passiert war. Man darf nicht fliegen und sollte es auch nicht versuchen, denn so hoch oben ist es gefährlich, weil man abstürzen kann. So hatte er es gelernt und davon war er überzeugt. Allerdings hatte er auch Vergnügen gefunden am Fliegen. Er hatte es genossen, durch die Luft zu gleiten und den Wind zu spüren, der ihn trug. Und so kam es, daß er heimlich, nur so zum Vergnügen, ein wenig flog. Er schämte sich dafür, aber er konnte es trotzdem nicht lassen. Doch so unbeobachtet, wie er sich glaubte, war er nicht. Andere Adler taten es ihm heimlich nach.

 

So kommt es, daß ein Wanderer, der in dieses Tal gelangt, manchmal einen Adler beobachten kann, der zu Fuß in die Berge hinaufsteigt zu seinem Wachturm. Wenn er weit genug oben ist, um nicht mehr gesehen zu werden, breitet er seine Schwingen aus und bewacht das Tal auf seine Weise.

Fliegen

Seit dem Ende der Traumzeit waren die Adler bodenständig geworden und lebten bei den Lemmingen. Nur hin und wieder wagte ein Adler es, zu fliegen. Das tat er heimlich. Aber eines Tages wurde er doch dabei beobachtet.

 

Ein kleiner Lemming, der in den Bergen spielte, sah es, lief sogleich nach Hause und erzählte es seinen Eltern. Diese wollten ihm zunächst nicht glauben. Aber, mißtrauisch geworden, legten sie sich auf die Lauer und es dauerte auch nicht lange, da wurden sie selbst Zeuge, wie der Adler seine Schwingen ausbreitete und sich majestätisch in die Luft erhob.

 

Die Lemminge waren ein geschwätziges Volk, und diese Beobachtung machte schnell die Runde. Es gab große Diskussionen ob der Unerhörtheit dieses Adlers. Die einen meinten: "Jagt ihn fort, er hat bei uns nichts mehr verloren!" Andere sagten: "Strafe muß sein, bringt ihn vor Gericht!". Das scheiterte aber daran, daß es kein Gesetz gegen das Fliegen gab. Einigen war es auch gleichgültig, ob Adler nun fliegen, oder nicht. Sie meinten: "Wenn er sich damit umbringen will, dann soll er es eben tun!"

 

Dieser Streit entzweite nicht nur Lemminge untereinander, auch die Adler stritten erbittert, ob es recht sei, zu fliegen. Die meisten waren der Ansicht, daß es nicht richtig sei. Aber viele junge Adler, die sich nicht um die Warnungen ihrer Eltern kümmerten, probierten es aus. Und es gelang ihnen so gut, als ob sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht hätten.

 

Nach geraumer Zeit trafen sich die Ältesten des Volkes, um zu beratschlagen, ob und wie man künftig gegen die Fliegerei vorgehen solle. Reihum ergriff jeder das Wort und brachte seine Meinung gegen das Fliegen vor. Einer empfahl aber, den Adlern nicht nur das Fliegen zu gestatten, sondern sie auch mit der Bewachung des Tales zu betrauen. Im Flug seien Gefahren wesentlich früher zu erkennen und man spare sich obendrein die vielen Brücken, Leitern und Wachtürme, deren Pflege sehr aufwendig sei. Dieser Einfall war viel zu umwälzend, als daß ihm jemand zustimmen konnte. Alle waren sehr aufgebracht. Schließlich einigte man sich darauf, ein allgemeines Flugverbot auszusprechen, zur Sicherheit jedes Einzelnen.

 

Das änderte aber nichts daran, daß die Adler weiterhin heimlich flogen, und zwar mehr als je zuvor. Auch drakonische Strafen konnten sie nicht davon abhalten. Indess diskutierte man immer noch den Vorschlag, das Tal aus der Luft zu bewachen. Immer mehr freundeten sich mit diesem Gedanken an. Man überlegte, wie man das in die Tat umsetzen könne ohne den Adlern diese Aufgabe zu übertragen. Wer so wenig gesetzestreu war, wie die Adler, der wäre bestimmt nicht zuverlässig genug. Obendrein seien die Adler, wie man allgemein wußte, sehr ungeschickt. Das sehe man schon daran, wie unbeholfen sie liefen und wie oft sie versagten beim Pflanzensammeln.

 

Es wurde eine Flugschule für Lemminge gegründet. Leider mußte man einen Adler als Lehrer verpflichten, denn bislang konnte noch kein Lemming fliegen. Die Lemminge übten eifrig, wie man die Arme ausbreitet, mit dem Hinterteil steuert und geschickt landet. Der Adler, der sie unterrichtete, verzweifelte allmählich an ihrer Unfähigkeit, sich in die Luft zu erheben. Es gingen mehrere Monde ins Land und die Lemminge machten keine Fortschritte mehr. Daraufhin gab der Adler auf und wurde mit Schimpf und Schande entlassen.

 

Aber die Lemminge übten fleißig weiter ...

 

So kommt es, daß ein Wanderer, der in dieses Tal gelangt, manchmal Lemminge beobachten kann, die die Felsen hinaufwandern und von dort herabspringen, in der Hoffnung, endlich das Fliegen zu lernen.