Keine ADHS - oder?

"Ihr Kind hat doch keine ADHS!", sagte die Lehrerin beinahe entrüstet zu mir. "Es ist beim Rechnen immer so konzentriert." - Ja, wenn das wirklich so einfach festzustellen wäre!

 

Ich sehe ADHS als Unvermögen, sich selbst zu steuern, nicht völlig, aber doch so sehr, dass es zu Problemen kommt. ADHS-Kinder können nicht auf Kommando aufpassen, sich konzentrieren, schön schreiben oder sich angemessen benehmen. Aber es gelingt ihnen, wenn sie gut motiviert sind. Die Ursache dieses Unvermögens ist ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter. Man ist den Details auf der Spur, wenn auch noch lange nicht alles darüber bekannt ist. Jedenfalls sieht es so aus, als ob im Wesentlichen Dopamin fehlt, weil es zu schnell wieder abgebaut wird. An dieser Stelle setzen die Medikamente an. Sie sorgen dafür, dass das vorhandene Dopamin länger dort bleibt, wo es gebraucht wird.

 

Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, den Dopaminspiegel zu erhöhen. Stress zum Beispiel: Wenn man ein Kind ausschimpft, anschreit oder gar schlägt, dann löst man diesen Stress aus. Der Dopaminspiegel steigt und das Kind hat sich besser im Griff. Das hilft aber nicht lange und ist pädagogisch nicht sinnvoll.

 

Eine andere Form von Stress ist zum Beispiel eine Test- oder Prüfungssituation oder auch eine fremde, ungewohnte Umgebung. Auch hier können ADHS-Betroffene für einige Zeit völlig normal sein. Dieses Phänomen erschwert die Diagnose, denn wenn man mit seinem Kind zum ADHS-Test kommt, kann es leicht passieren, dass der Stress der Situation und der fremden Umgebung für vorübergehende Symptomfreiheit sorgt.

 

Die Kinder selbst können durch körperliche Unruhe und Zappeln ihren Dopaminspiegel erhöhen. Das tun sie nicht absichtlich, aber sie spüren intuitiv, dass ihnen die Zappelei hilft und sie sich besser fühlen damit. Leider steigt der Adrenalinspiegel aller anderen Personen in ihrer Umgebung auch, und häufig sogar auf ungesund hohe Werte. Das Ertragen unruhiger Kinder ist ähnlich anstrengend wie Schmerzbewältigung.

 

Auch eine gute Motivation sorgt für einen erhöhten Dopaminspiegel. Menschen mit ADHS fällt es leicht, sich bei ihren Lieblingsthemen zu konzentrieren. Im Gegenteil, oft haben sie Probleme, das Thema gedanklich wieder loszulassen und in den Alltag zurückzukehren.

 

Also ist es gar nicht so einfach, ADHS festzustellen. Ein einzelner Test kann bestimmt kein korrektes Ergebnis bringen. Darum gibt es für die Diagnostik auch Leitlinien, die unbedingt einzuhalten sind. Das Verhalten des Kindes wird aus verschiedenen Lebensbereichen (Kindergarten/Schule, Hort, zu Hause) abgefragt. Außerdem müssen Erkrankungen, die ein ähnliches Erscheinungsbild wie ADHS haben (z. B. Schilddrüsenerkrankung, Trauma, ...) ausgeschlossen werden, bevor die Diagnose ADHS gestellt wird.

 

Aber wie erkläre ich das nun der Lehrerin? Ich könnte fragen, wieviel sie von der ADHS-Diagnostik weiß. Ich könnte ihr erzählen, wie viele Fragebögen wir Eltern ausgefüllt haben, wieviele Tests unser Kind durchlaufen hat, wie lange kompetente Fachleute mit der Auswertung beschäftigt waren. Diese sorgfältig erstellten Ergebnisse kann man nicht durch wenige Eindrücke aus einigen Schulstunden ersetzen.

 

Ich könnte auch fragen, welche Fortbildungen und Zusatzqualifikationen bzgl. ADHS die Lehrerin bislang erworben hat. Und bei der Gelegenheit kann ich gleich auf Fortbildungsveranstaltungen in der Nähe hinweisen. Unter Umständen ergibt sich dabei, dass sie die gleichen Veranstaltungen besucht hat, auf denen ich auch war. Dann haben wir eine Gemeinsamkeit, über die wir uns austauschen können.