Das wohlerzogene Kind
Das neurodiverse Kind
Die Eltern
Kinder dort abholen, wo sie stehen
Inklusion
Kinder werden erwachsen. Damit sie es in unserer Gesellschaft leichter haben, werden sie in der Schule und in anderen pädagogischen Einrichtungen zu Menschen erzogen, die den Erwartungen der Gesellschaft entsprechen.
Eigenschaften und Verhalten wohlerzogener Kinder, wie sie die Gesellschaft auch bei Erwachsenen erwartet, stellen sich mir wie folgt dar:
Das Kind steht morgens beizeiten ausgeschlafen und gut gelaunt beim ersten Weckerklingeln (bzw. beim ersten „Steh bitte jetzt auf“ der Mama) auf. Es geht ins Bad, weiß, was es dort zu tun hat, zieht sich an und kommt rechtzeitig zum Frühstück. Dann packt es das Pausenbrot in den am Vorabend sorgfältig gepackten Ranzen, prüft nach, ob alles drin ist – auch solche Extras wie Sportkleidung – und verlässt pünktlich das Haus, um mit den anderen Kindern zur Schule zu gehen.
Das wohlerzogene Kind hat stets alles in der Schule dabei, was es braucht; in erster Linie die Hausaufgaben. Im Unterricht macht es mit, bringt sich in Teams ein, lässt sich nicht ablenken und schwätzt nicht. In der Pause fällt es nicht auf und nach der Schule geht es auf direktem Weg nach Hause.
Es meckert nicht am Mittagessen rum und macht danach seine Hausaufgaben, freiwillig, ruhig und selbstständig – egal ob zuhause oder in der Nachmittagsbetreuung. Danach wird der Ranzen für den nächsten Tag gerichtet.
Es grüßt freundlich, schaut die Erwachsenen an, wenn sie mit ihm reden, gibt keine Widerworte, gehorcht und ist immer pünktlich. Kleidung, Haare und Fingernägel sind stets sauber und ordentlich. Nach dem Abendessen geht es immer zur gleichen Zeit ins Bad, zieht den Schlafanzug an und geht ins Bett, damit es am nächsten Tag ausgeschlafen ist. Es schläft auch schnell und ohne „Verzögerungstaktik“ ein.
Tolles Kind! So eines hätten alle Eltern gerne. Meistens ist es aber nicht so, man greift erzieherisch ein, hat aber stets das gleiche Ziel vor Augen: siehe oben. In der Schule (bzw. Tagesstätte) wird mit genau dem gleichen Ziel erzogen: siehe oben.
Es gibt Kinder, die sind einfach so – wohlerzogen, ruhig, höflich, gehorsam. Es gibt auch Kinder, die sind das nicht. Dafür gibt es im Großen und Ganzen zwei Gründe: Entweder WILL das Kind nicht, oder es KANN es nicht.
Wie dem auch sei – es wird als unerzogen, faul, frech, unzuverlässig, schlampig … wahrgenommen und schuld sind immer die Eltern.
Wenn sich das Kind nicht angemessen verhalten WILL, kommen die ganzen pädagogischen Erziehungsmaßnahmen zum Tragen – mal mit Erfolg, mal ohne. Hier handelt es sich in der Regel um neurotypische Kinder.
Wenn das Kind sich aber nicht angemessen verhalten KANN … was nun?
Das neurodiverse Kind steht oft morgens so spät wie möglich, unausgeschlafen und mies gelaunt, nachdem Mama mehrfach „Steh bitte jetzt auf“ gesagt hat, auf. Es geht ins Bad, weiß nicht immer, was es dort zu tun hat und trödelt rum, zieht sich nur unfreiwillig und motzend an und räumt dazu mitunter den halben Schrank aus. Es kommt viel zu spät zum Frühstück, um noch in Ruhe etwas zu essen. Mama packt das Pausenbrot in den Ranzen und hofft, dass alles drin ist, was das Kind in der Schule braucht. Kurz vor knapp verlässt es das Haus, um in die Schule zu gehen.
Das neurodiverse Kind hat nicht immer alles in der Schule dabei, Hausaufgaben sind ein eigenes Thema. Im Unterricht möchte es mitmachen, wird aber ständig abgelenkt von gar allem, was sich im Klassenzimmer oder in dessen Nähe tut. Da sind Geräusche auf dem Flur, Stimmen, eine Fliege fliegt ständig gegen die Fensterscheibe, das Geräusch der Kreide schmerzt im Ohr; es riecht nach Leberwurstbrot und Müsliriegel und nach dem Deo der Lehrkraft; der Pulli der Mitschülerin passt farblich nicht zu ihrer Jeans. die Sonne scheint zu hell ins Klassenzimmer, jetzt wird sie von einer Wolke verdunkelt, gleich wird es kälter, dem Kind laufen Schauer über den Rücken, es bekommt eine Gänsehaut.
Das neurodiverse Kind kann die Reizüberflutung kaum noch aushalten. Wie durch Watte nimmt es wahr, dass die Lehrkraft mit ihm spricht. Es hat keine Ahnung, worum es geht, das Thema weiß es nicht mehr, die Frage der Lehrkraft kann es nicht beantworten, es fängt an zu schwitzen und will nur noch raus aus der Situation.
Es klingelt zur Pause. Endlich kann es der Reizüberflutung entrinnen – entweder durch Flucht aus dem Klassenzimmer oder indem es dort verharrt. Zwei, drei Mitschüler schauen so komisch, es fühlt sich verspottet, schubst einen der Mitschüler, der im Weg steht, und rennt raus – und natürlich hat es sein Pausenbrot im Klassenzimmer vergessen. Es kann auch sein, es schleicht sich unbemerkt an allen vorbei. Allzu oft hat es nur den einen Wunsch: Die andern sollen raus, damit Ruhe ist.
Teamarbeit ist schwer erträglich. Das Kind muss mit den Mitschülern konstruktiv kommunizieren und spürt doch, dass die anderen es lieber ausschließen wollen. Es möchte die Arbeit am liebsten alleine machen, irgendwo, wo es sich konzentrieren und bei der Arbeit bleiben kann. Teamarbeit schließt das aber aus.
Unterrichtsende. Das neurodiverse Kind stochert im Mittagessen rum, lehnt es mitunter ganz ab, und denkt an alles Mögliche, nur nicht an die Hausaufgaben – und wieder mal weiß es nicht, was auf ist. Das Schulzeug wird in den Ranzen gestopft und nicht nachgeprüft, ob für den nächsten Tag alles drin ist.
Es ist unsicher, wie man Erwachsene grüßt, und lässt es deshalb oft sein. Es kann die Erwachsenen nicht anschauen, wenn sie mit ihm reden, das ist Reizüberflutung pur. Es gibt Widerworte, wenn eine Aufgabe nicht logisch ist, will alles ausdiskutieren, gehorcht nicht immer und ist zeitblind. Seine Kleidung, Haare und Fingernägel weisen im Laufe des Tages deutliche Gebrauchsspuren auf, meist sind die Fingernägel ohnehin bis zum Nagelbett abgekaut.
Nach dem Abendessen, das selten ohne Diskussion verläuft, trödelt es herum, weil es nicht ins Bad gehen will; nach dem Bad trödelt es rum, weil es nicht ins Bett will. Ist der Schlafanzug endlich an, muss es noch was trinken und nochmal aufs Klo und noch irgendwas und es fällt ihm bestimmt noch mehr ein, was jetzt unbedingt vor dem Schlafengehen noch sein muss.
Endlich liegt es im Bett – und jetzt legt der Bienenschwarm im Kopf erst so richtig los. Die Verarbeitung der Tagesereignisse, die bei neurotypischen Menschen im Schlaf erfolgt, beginnt bei neurodiversen Menschen noch im Wachzustand. Die Erlebnisse des Tages laufen wie ein Film ab; die Melatonin-Ausschüttung erfolgt verspätet, Einschlafen ist schwierig und klappt oft erst nach Stunden, manchmal ist es alleine gar nicht möglich. Entsprechend müde ist es dann am nächsten Morgen.
Wir sprechen hier von Kindern, die sich nicht erwartungsgemäß verhalten KÖNNEN, weil ihre Wahrnehmung eine völlig andere ist. Genau darum geht es bei Neurodiversität: Die Wahrnehmung ist anders, intensiver, vielfältiger. Alles, was wahrgenommen wird, will mit der gleichen Priorität verarbeitet werden; dabei kann das Kind nicht steuern, welche Wahrnehmungen wichtig sind und welche nicht.
Das Kind leidet. Die Eltern suchen ärztlichen Rat. Das Kind durchläuft einen Test nach dem anderen, in welchen abgefragt wird, was das Kind nicht kann. Aufgrund der Defizite wird eine Diagnose gestellt … ADHS, ASS, Tourette, visuelle oder auditive Wahrnehmungsstörung, Legasthenie, Dyskalkulie … mitunter wird dabei auch Hochsensibilität, Hochbegabung, Synästhesie oder Linkshändigkeit festgestellt.
Hierbei handelt es sich durchweg um angeborene Besonderheiten, die besondere Bedürfnisse hervorbringen. Diese besonderen Bedürfnisse sind vielfältig und bei jedem Kind anders. Neurodiverse Kinder sind recht unterschiedlich. Jedes ist einzigartig. Wenn man seine besonderen Bedürfnisse kennt und sich entsprechend verhält, kann man ihm sehr viel Leid ersparen.
Das Leben der Eltern neurodiverser Kinder ist nicht einfach. Da ist zunächst einmal ein anstrengendes Kind. Dazu kommen Termine für Diagnostik und Therapie und für Gespräche mit Kostenträgern für Hilfen, die ein Kind mit besonderen Bedürfnissen braucht. Die Eltern werden zu Experten für die Besonderheit ihrer Kinder. Schade, dass sich fast niemand für ihr detailliertes Wissen interessiert.
Was die meiste Kraft kostet, ist, dass sich genau diese Eltern dann anhören müssen, sie könnten ihr Kind nicht erziehen bzw. die Diagnose würde nicht stimmen bzw. die beantragten Hilfen seien nicht notwendig bzw. die angeborene Diversität sei jetzt ausgewachsen. Das ist respektlos.
Eltern können Lehrkräften, Erziehern, Pädagogen, Ärzten, Therapeuten … so viel Erfahrung weitergeben und so deren Umgang mit ihren Kindern erheblich erleichtern. Dies wird leider nur ganz selten angenommen. Wer leidet, ist das Kind.
Gute Schulen und Betreuungseinrichtungen werben oft damit, man hole jedes Kind dort ab, wo es stehe. Es besteht kein Zweifel daran, dass das die Absicht ist und dass dieses Ziel auch oft erreicht wird. Bei neurodiversen Kindern besteht aber das Problem, dass man häufig nicht weiß, wo genau sie stehen. Also kann man sie dort auch nicht abholen. Jeder Versuch geht ins Leere.
Wo steht das neurodiverse Kind? Wo kann man es abholen?
Es ist gefangen in seiner Angst vor sozialen Gruppen und vor Menschen, die es nicht verstehen, die es nicht mögen, und es hat ein instinktives Gespür dafür, wer ihm wohlgesonnen ist und wer nicht. Seine intensivere und vielfältigere Wahrnehmung sorgt rasch für Reizüberflutung, die sich mitunter dergestalt entlädt, dass das Kind schreit, tobt, um sich schlägt, mit Gegenständen wirft, sich selbst verletzt. Das sind keine „Wutanfälle“, das ist Hilflosigkeit, oft pure Verzweiflung. In diesem Zustand redet man nicht auf das Kind ein und fasst es auch nicht an. Man lässt es einfach in Ruhe und wartet, bis die Folgen der Reizüberflutung vorbei sind.
Spätestens dann ist der Moment gekommen, auf die Eltern zuzugehen und sie zu fragen, ob ihr Kind sich anders verhält, weil es sich nicht wie gewünscht verhalten KANN.
Wer ein neurodiverses Kind dort abholen will, wo es steht, kommuniziert freundlich und wertschätzend mit ihm und sagt in klaren Formulierungen, was er erwartet bzw. sich wünscht. Diese Wünsche sollten sich in einem Bereich bewegen, der für das Kind erfüllbar ist. Wären die Erwartungen an wohlerzogene Kinder iSv Kapitel eins für das Kind realisierbar, so würde es sich auch so verhalten.
Das neurodiverse Kind will einfach nur ein ganz normales Kind sein, wie alle anderen auch; es will dazugehören. Das KANN es aber nicht. Umso wichtiger ist es, dass die Erwachsenen Barrieren zur Seite räumen und darauf achten, dass Mobbing keine Chance hat.
Kinder mit besonderen Bedürfnissen haben unterschiedlichen Hilfebedarf. Hier werden Eltern nicht nur alleingelassen, es werden ihnen auch jede Menge Steine in den Weg gelegt. Lehrkräfte und Erzieher in Tagesstätten können durch Kooperation hier viele Wege ebnen.
Möglicherweise braucht das Kind einen Schulbegleiter. Ein Schulbegleiter ist bei einem Träger angestellt. Dieser wiederum erhält Geld vom Jugendamt. Der Schulbegleiter sitzt mit in der Schulklasse, also ist auch die Lehrkraft involviert.
Sie alle meinen, sie wüssten genau, was das Kind braucht, und geben dem Schulbegleiter Anweisungen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Wüssten alle, was das Kind wirklich braucht, wäre der Schulbegleiter überflüssig.
Der Schulbegleiter ist gut beraten, wenn er ständig mit den Eltern in Kontakt steht und sich bei ihnen erkundigt, wie er dem Kind am besten helfen kann.
Es kann auch sein, das Kind braucht einen Nachteilsausgleich. Der wird für jedes Kind individuell festgelegt. Vielleicht braucht das Kind mehr Zeit bei Klassenarbeiten oder braucht einen Laptop oder ein Tablet um zu schreiben.
Nachteilsausgleiche ermöglichen es, dass ein Kind die gleichen Chancen wie alle anderen Kinder hat. Sie sind kein Bonus und keine unnötigen oder gar unzulässigen Hilfen. Kein anderes Kind wird dadurch benachteiligt.
Inklusion bedeutet nicht, dass ein Kind mit besonderen Bedürfnissen in einer Regelschule beschult wird und in die gleiche Klasse wie die anderen Kinder gehen darf. Inklusion bedeutet auch nicht, dass ihm an der Regelschule besondere Hilfen gewährt werden.
Inklusion bedeutet, dass Kinder mit besonderen Bedürfnissen dazugehören. Genau das sollte nicht nur den betreffenden Kindern vermittelt werden, sondern vor allem auch den Klassenkameraden und deren Eltern.
Die Defizite eines Kindes werden ausschließlich mit den Eltern dieses Kindes diskutiert– nicht mit dem Kind und vor allem nicht in Anwesenheit Dritter.
Es wurde bewusst darauf verzichtet, Diagnosen wie ADHS, ASS u.a. zu thematisieren. Denn die Diagnosen selbst sind unwesentlich. Wesentlich ist allein, dass ein Kind besondere Bedürfnisse haben kann und diese dann gewährt werden.
Inklusion gelingt, wenn Defizite eines Kindes keine Rolle spielen.